Energie: Sind die geopolitischen Risiken adäquat eingepreist?
29.06.2009 | Eugen Weinberg
Seit Anfang Juni schwankte der Ölpreis zwischen 66 USD je Barrel und 72 USD je Barrel. Der Aufwärtstrend, der bei 35 USD je Barrel Mitte Februar begonnen hatte, scheint sich seinem Ende zuzuneigen. In unseren letzten Wochenberichten haben wir herausgestellt, dass der Ölpreis auf ein Niveau gestiegen ist, das nicht mehr durch Lagerbestände und freie Produktionskapazitäten gerechtfertigt werden konnte. Wie es schien, hat der Ölpreis die Erwartung einer Marktverengung zum Jahresende reflektiert, als Resultat einer erwarteten Nachfrageerhöhung und der OPEC-Produktionsbeschränkungen. Wir glauben, dass sich in den letzten Wochen die geopolitischen Risiken für das Ölangebot erhöht haben, in Nigeria und insbesondere im Iran. Diese haben noch nicht ihren Niederschlag in der Veränderung des Ölpreises gefunden.
Um zu verstehen, ob die fehlende Preisreaktion auf die politischen Ereignisse gerechtfertigt ist, untersuchen wir in diesem Wochenbericht politische oder militärische Geschehnisse, die in der Vergangenheit zu einer Störung des Ölangebots führten. Wir analysierten das Ausmaß und die Dauer der Angebotsverluste sowie deren Auswirkungen auf den Ölpreis. Die reichlich vorhandenen freien Produktionskapazitäten, die Möglichkeit, strategische Öllagerbestände freizugeben und die liquiden börsengehandelten Ölmärkte stimmt die Ölmarkteilnehmer offensichtlich zuversichtlich, dass der Markt auf jegliche Angebotsunterbrechung effizient reagiert und deshalb keine große Risikoprämie für die derzeitigen politischen Spannungen im Iran eingepreist werden muss.
Geopolitische Risiken haben in den letzten Wochen zugenommen ...
Während der letzten zwei Wochen haben im Anschluß an die iranischen Präsidentschaftswahlen politische Spannungen zu zivilen Unruhen geführt. Die Ölexporte wurden davon in keinerlei Hinsicht beeinträchtigt.
Allerdings besteht die Möglichkeit, dass sich die öffentliche Ordnung weiter verschlechtert, bis hin zu möglichen Streiks, und dadurch die Öllieferungen unterbrochen werden. Im gleichen Zeitraum wurde in Nigeria die Ölproduktion durch zivile Unruhen beeinträchtigt, einschließlich anhaltender Angriffe auf Ölproduktionsstätten. Während sich die iranische Ölproduktion derzeit auf auf 3,72 Mio. Barrel pro Tag beläuft, beträgt die nigerianische Ölproduktion ca. 1,80 Mio. Barrel pro Tag. Beide Länder haben ihre Produktion in den letzten Jahren reduziert. Im Fall von Iran geschah dies hauptsächlich im Rahmen der Einhaltung von OPEC-Förderquoten. Bei Nigeria hingegen spiegelt sich darin die Auswirkung der politischen Auseinandersetzungen auf das Ölangebot wider. Die derzeitige nigerianische Ölproduktion ist gegenüber Mitte 2007 etwa 20% niedriger. Dies ist fast ausschließlich auf die zivilen Unruhen zurückzuführen.
... aber der Ölpreis hat nicht darauf reagiert ...
Die Möglichkeit weiterer Angebotsbeschränkungen seitens dieser beiden Ölproduzenten scheint die Ölpreise nicht negativ zu beeinflussen. Ist dies gerechtfertigt?
Die bedeutendsten Unterbrechungen des Ölangebots seit 1951
Um diese Frage beantworten zu können, haben wir 18 Angebotsunterbrechungen seit 1951 untersucht, welche, mit einer Ausnahme, durch politische oder militärische Spannungen verursacht wurden (siehe Tabelle unten). Wir haben auch die Auswirkung, die die Hurrikane “Katrina” und “Rita” auf die Öllieferungen hatten, als aktuellere Vergleichsmöglichkeit mit einbezogen. Die Tabelle unten zeigt die durchschnittlichen und maximal möglichen Produktionsverluste ausgedrückt in Mio. Barrel Rohöl pro Tag. Wir haben außerdem die Auswirkung des jeweiligen Ereignisses auf den Ölpreis einbezogen, ausgedrückt durch den maximal erreichten Ölpreis während des Ereignisses als Prozentsatz des niedrigsten Ölpreises zum Zeitpunkt des Ereignisses.
Zahlreiche wichtige Sachverhalte können dieser Tabelle entnommen werden:
Vor 1973 war der Ölpreis in Form eines “ausgerufenen Ölpreises” quotiert worden und reagierte deshalb nicht direkt auf Markteinflüsse. 1974 wurde durch OPECMaßnahmen die Aufgabe des Systems der “ausgerufenen Ölpreise”erzwungen und die Ölpreise reagierten auf Veränderungen von Angebot und Nachfrage.
Die größten Angebotsverluste wurden während der Iranischen Revolution verzeichnet, als zuweilen bis zu 5,6 Mio Barrel Öl pro Tag vom Markt verschwanden. Die Auswirkung auf den Ölpreis war relativ moderat, da Saudi-Arabien auf die Verluste mit einer Ausweitung der Produktion reagierte. Man muß dabei beachten, dass sich die Preise in den Monaten vor dem Ausbruch der Revolution erhöht hatten.
Die größte Auswirkung auf den Ölpreis hatte die Unterbrechung der Öllieferungen durch den Arabisch-Israelischen Krieg (Oktober 1973 bis März 1974), als sich innerhalb eines Zeitraumes von sechs Monaten die Angebotsverluste im Durchschnitt auf ca. 2,6 Mio. Barrel pro Tag beliefen. Die Reaktion der Preise reflektierte weitestgehend die Unfähigkeit anderer ölproduzierender Länder, den Ausfall auszugleichen. Dieses Ereignis war der Auslöser dafür, dass die Industrieländer die Internationale Energieagentur (IEA) gründeten. Deren Hauptaufgabe bestand darin, strategische Öllagerbestände aufzubauen, die im Falle künftiger Lieferunterbrechungen freigegeben werden können.
Die zweitstärkste Auswirkung auf den Ölpreis aufgrund von Angebotsausfällen hatte der Überfall des Irak auf Kuwait (August 1990 bis Januar 1991). Die Preise schnellten zu Beginn der Invasion nach oben, teilweise deshalb, weil die Besorgnis vorherrschte, dass die irakische Armee die ölproduzierenden östlichen Provinzen Saudi Arabiens beschädigen könnte. Die Preise reagierten blitzschnell auf das Ereignis und spiegelten dabei sowohl die gewachsene Bedeutung von Investoren und Spekulanten am Ölmarkt als auch die Präsenz von börsengehandelten Ölmärkten wider. Man muss dabei in Betracht ziehen, dass die höchsten Preise zu Beginn der Invasion auftraten und, dass die Preise nach Einleitung des US-Luftkriegs im Januar 1991 dramatisch nach unten fielen, auch weil dies mit der Freigabe von strategischen Ölreserven durch IEAMitglieder einherging. Darüber hinaus war Saudi Arabien in der Lage, den Anteil der Ölproduktion, der in Kuwait verloren ging, durch eine kräftige Produktionsausweitung bereitzustellen.
Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass die Preiserhöhung als Reaktion auf den Angriff des Irak durch Maßnahmen der IEA und anderer ölproduzierender Länder mehr als rückgängig gemacht werden konnte.
Im Jahre 2003 trugen der Einmarsch in den Irak und zivile Unruhen in Nigeria dazu bei, dass der Ölpreis zeitweilig um 50% anstieg. Dies spiegelte auch den unmittelbaren Verlust der irakischen Ölproduktion wider, welche letztlich durch die Freigabe der IEA Lagerreserven und eine Ausdehnung der saudi-arabischen Ölproduktion ersetzt wurde. Nichtsdestotrotz muss festgehalten werden, dass die Ölpreise nicht auf das Niveau der Vorkriegsperiode zurückgefallen sind. Ein starker Anstieg der Ölnachfrage Chinas zehrte die ungenutzten Produktionskapazitäten auf. Dadurch standen der Welt bis Oktober 2004 nur sehr wenig zusätzliche Produktionskapazitäten zur Verfügung, um im Falle einer Angebotsunterbrechung zu reagieren.
Die Hurrikane “Katrina” and “Rita” ereigneten sich zu einer Zeit als freie Produktionskapazitäten knapp waren. Als die Zerstörungen ihren Höchststand erreicht hatten, war die Ölproduktion im Golf von Mexico um 1,5 Mio. Barrel pro Tag reduziert. Verluste bei den Raffinerieanlagen hatten in diesem Falle einen größeren Einfluß auf die Preise als Verluste bei der Rohölproduktion. Dies veranlasste die IEA, Lagerbestände an Ölprodukten, die sich hauptsächlich in Europa befanden, freizugeben und trug maßgeblich zu einem Sinken des Ölpreises bei. Darüber hinaus verringerten die Verluste der Raffinerie-Produktionskapazitäten den Bedarf an Rohöl und beschränkten den Preisanstieg von Rohöl.
Welche Lehren können wir aus den vergangenen Ereignissen ziehen und auf künftige Ölangebotsunterbrechungen anwenden?
In den siebziger und achtziger Jahren trugen die Abwesenheit von börsengehandelten Ölmärkten und das daraus resultierende Fehlen von Finanzinvestoren zu ausgeprägten Preisausschlägen bei, die sich nicht schnell wieder umkehrten. Bevor die IEA stragische Lagerbestände für den Fall von Angebotsunterbrechungen aufzubauen begann, gab es keine unmittelbare Angebotsreaktion, die die Ölpreise wieder auf Normalniveau brachte. Aus diesem Grunde verblieben die Ölpreise in der Vergangenheit über einen längeren Zeitraum auf hohem Nivau.
In der jüngeren Vergangenheit trugen liquide börsengehandelte Ölmärkte zu einer deutlichen, unmittelbaren Preisreaktion auf eine Angebotsunterbrechung bei. Das Potenzial eines Preisanstiegs ist durch die Möglichkeit beschränkt, dass die IEA jederzeit strategische Lagerbestände freigeben kann. Bei Freigabe derartiger Lagerbestände reagieren die Preise ebenso deutlich und unmittelbar nach unten, da die liquiden Ölmärkte in der Lage sind, effizient neue Preise zu bestimmen.
Die einzige alternative angebotsseitige Reaktion auf Angebotsunterbrechungen ist der Einsatz freier Produktionskapazitäten. Diese befinden sich fast ausschließlich in den OPECMitgliedsstaaten, wobei Saudi Arabien 80% aller freien Kapazitäten besitzt. Im Jahre 2004 fielen die freien Produktionskapazitäten auf das historisch niedrigste Niveau. Derzeit belaufen sie sich aufgrund der signifikanten Produktionsbeschränkungen der OPEC seit dem vergangenen Jahr auf 5 Mio. Barrel pro Tag. Im Gegensatz zur Vergangenheit wird Öl heute von einer deutlich größeren Anzahl von Ländern bereitgestellt. Durch einen höheren Diversifizierungsgrad der Ölanbieter hat sich die Sicherheit des Ölangebots erhöht.
Demzufolge scheinen die gegenwärtigen geopolitischen Faktoren, die das Ölangebot beeinflussen könnten, nur einen beschränkten Einfluss auf Ölpreise zu haben. Reichlich vorhandene freie Produktionskapazitäten, die Möglichkeit der Freigabe strategischer Ölreserven und die Existenz von liquiden börsengehandelten Ölmärkten machen die Marktteilnehmer zuversichtlich, dass der Markt effizient auf jegliche Angebotsunterbrechung reagiert. Aus diesem Grund wird keine große Risikoprämie für die derzeitigen politischen Spannungen im Iran eingepreist.
Wir bestätigen unsere Prognose, dass der Ölpreis zum Jahresende bei 70 USD je Barrel notieren wird. Dieses Preisniveau wird durch niedrigere Öllagerbestände aufgrund der Auswirkungen der OPEC-Angebotsbeschränkungen unterstützt. Wir erwarten keine signifikanten Preisbewegungen über dieses Niveau hinaus. Saudi Arabien dürfte in diesem Fall seine freien Produktionskapazitäten nutzen und die Ölproduktion ausweiten, so dass das Niveau von 70 USD je Barrel beibehalten wird. Dieses Preisziel kommt den Finanzierungsbedürfnissen Saudi Arabiens entgegen und hat gleichzeitig keinen schädlichen Einfluß auf die Ölnachfrage. Vom gegenwärtigen Zeitpunkt bis zum Jahresende halten wir Preisschwankungen innerhalb einer Spannweite von 65 USD bis 70 USD je Barrel für wahrscheinlich. Der Markt reagiert dabei auf mikroökonomische Ereignisse, die im Zusammenhang mit den Aktienmärkten und der USDollarentwicklung stehen.
Auf einen Blick
© Eugen Weinberg
Senior Commodity Analyst
Quelle: ´´Rohstoffe kompakt´´, Commerzbank AG
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